heimsuchungen, ein gespenster-festival über das abwesende in und um uns

lectures | lesungen | performances | musik | filme

do, 28. oktober bis sa, 30. oktober 2021
einlass jeweils 19:30 uhr

beginn jeweils 20:00 uhr

eine kooperation von schule für dichtung und schauspielhaus wien, in zusammenarbeit mit dem slash filmfestival

etwas zeigt sich in seiner abwesenheit. etwas ragt aus der vergangenheit in unser leben. oder – wer weiß schon – aus dem jenseits. dieses nicht greifbare etwas ist uns zwar “unheimlich”, ob seiner allgegenwart in märchen, schauerromanen, horrorfilmen und tv-serien allerdings auch sehr vertraut, ja gerade “heimlich”. es: das gespenst, der geist, der spuk, die erscheinung, das phantom, wesen und unwesen.
früh schon haben gespenster die ihnen zugeschriebenen literarischen reviere – moore, gräber, schlösser und andere “haunted houses” – verlassen und sich auch in die gedankengebäude von philosophie und psychoanalyse eingenistet. und dies mit einer strahlkraft, dass sie in den kulturwissenschaften längst auch als metaphern, chiffren und diskursfiguren für gar vieles herumgeistern: von der bereits von karl marx beschriebenen ökonomie des scheins als gespenstische scheinökonomie heutiger finanzkapitalströme über jacques derridas plädoyer “lernen, mit den gespenstern zu leben” bis herauf zur “hauntology” des kulturwissenschaftlers mark fisher, laut der die “abschaffung der zukunft” massenhaft gespenstische wiedergänger vergangener epochen gebiert.  
neben aller theoretischen aufgeladenheit sind gespenster – als schwellenphänomene zwischen dies- und jenseits, sichtbarkeit und unsichtbarkeit, faszination und furcht – nach wie vor freilich auch spielfläche unserer imagination; ganz egal, ob es sich dabei um die guten alten geister handelt, die uns “nur” schreckten, weil wir weder ihre botschaften noch ihre seltsamen aggregatszustände zu deuten wussten oder ob es um die neuen gespenster geht, deren abwesende anwesenheit uns in den omnipräsenten trugbildern unserer medienwirklichkeit ebenso zusetzt wie in den phantomhaften inszenierungen unserer ichs in den sozialen netzen. waren die alten geister um uns noch spooky, so sind die neuen in uns nur noch creepy.
als zeitgenössisches literaturfestival wollen wir diese historische vielfalt kutureller gespenster-produktion auf deren resonanzen in heutiger text- und musikproduktion abhorchen. denn so viele zweifel gespenster mit ihrem erscheinen auch wecken, so wenig zweifel besteht doch darüber, dass gespenster wieder konjunktur haben. man muss nur an sie glauben.

kuratiert von fritz ostermayer (künstlerischer leiter der sfd)

do, 28.10., 20h >Karten kaufen
 
markus keuschnigg
(slash filmfestival wien, filmjournalist)präsentiert seine liebsten ghost-movies – lecture

sfd& gespenster– lesungen aus der zeitschrift der sfd
eleonora bögl, curd duca, eva pilipp, petra pribitzer, alexandra wieser

4 kurzfilme von susann maria hempel (filmkünstlerin, greiz):
“wie ist die welt so stille” (5 min); “der große gammel” (8 min); “die fliegen (the birds II)” (7:30 min), “sieben mal am tag beklagen wir unser los und nachts stehen wir auf, um nicht zu träumen” (18 min)


fr, 29.10., 20h >Karten kaufen

johannes ullmaier (literaturwissenschaftler, mainz) – einführungsreferat

barbi marković – (autorin, wien) – exklusiver auftragstext

sfd& gespenster– lesungen aus der zeitschrift der sfd
gerald jatzek, markus köhle, linda f. lux

hendrik otremba (autor und musiker, berlin) – romanlesung: “kachelbads erbe”

makunouchi bento & silent strike (elektronische bela bartok-hauntologen, temeswar)


sa, 30.10., 20h >Karten kaufen

roger clarke (autor und geisterforscher, london) – a natural history of ghosts: 500 years of hunting for proof – zoom-gespräch mit dem autor;
lesung aus der deutschen übersetzung naturgeschichte der gespenster. eine beweisaufnahme (hg. von judith schalansky) von dirk stermann              

barbara zeman (autorin, wien) – lesung aus dem text „das mädchen“

sfd& gespenster– lesungen aus der zeitschrift der sfd
max pein, renate schiansky, agnes schneidewind,
susanne weigersdorfer, jan zimmermann

voodoo jürgens (poet und musiker) mit seiner sfd-friedhofspoesie-klasse: manfred bruckner, jürgen heimlich, johanna niedermair, vera reumann, stephan ronay, susanne weigersdorfer – lesung / performance

ela orleans (musikerin und ghostpoet, london) – musikperformance


susann maria hempel (greiz) – die sinistre poesie eines dem verfall preisgegebenen theaters. beklemmende rituale verstörter menschen als verstaubte tableaux vivants. nicht zuletzt ein mechanisches ballett von zerfetzten puppen und anderen malträtierten objekten. mit grandiosen kurzfilmen wie der große gammel, wie ist die welt so stille oder sieben mal am tag beklagen wir unser los und nachts stehen wir auf, um nicht zu träumen erweist sich die filmemacherin und hörspielautorin susann maria hempel als genialste vertreterin einer allerletzten ‘schwarzen romantik’, vor der selbst ein david lynch erschüttert zu boden ginge. eine verlorene schwester der brüder grimm, nach mehr als 200 jahren wieder aufgetaucht.

markus keuschnigg (wien) – egal ob degenierte fleischhauerfamilien einfältigen studentInnen den garaus macht oder besessene exorzisten kindern nicht nur den teufel, sondern auch gleich das leben austreiben, egal ob blutiges grand guignol-theater oder subtiles seelendrama der ich-auflösung: markus keuschniggs herz schlägt für gar viele formen des physischen und psychischen horror-films. als leiter des hochgelobten slash-filmfestivals hebt er seit jahren verschollene und neue schätze des abseitigen schock-kinos. wir freuen uns (mit vollen hosen) auf die präsentation der liebsten ghost-movies dieses wissenden aficionados.

johannes ullmaier (mainz) – grundsatzreferat und lecture mit sehr analogen lehrmittelbehelfen.
unser mann für alles erkennt zwar die unmöglichkeit der aufgabe, nach corona noch gespenster zu identifizieren, die nicht im nächstbesten mitmenschen lauern, dennoch wagt herr ullmaier eine systematik des anwesenden abwesenden beziehungsweise abwesenden anwesenden im kulturgeschichtlichen wirrwarr des unheimlichen von homer bis james wan.

barbi marković (wien)während im alten jugoslawien einigkeit darüber herrschte, dass ‘der balkan’ existiert, stand man gleichzeitig unter dem druck, sich von jenem zerrbild des westens abzusetzen, das die historikerin maria todorova ‘balkanismus’ nennt. an dieser schnittstelle von westlichen klischeevorstellungen und ‘östlicher’ selbstzuschreibung siedelt barbi markovićs literatur, aus der – wie man so sagt – “die gespenster der vergangenheit immer wieder hervorkriechen”. zum glück sind immer auch ein paar komische dabei.

hendrik otremba (berlin) – als sänger der band messer ist hendrik otremba – so spiegel online“experte darin, das gefühl von angst und orientierungslosigkeit zu kunst zu machen”. als autor seines romans kachelbads erbe gelingt ihm eine wunderbare umdrehung der geister-timeline: dank kryonik müssen wir uns nicht nur vor den wiederauferstandenen toten der vergangenheit fürchten, sondern auch vor den eingefrorenen leichen der zukunft. das gespenstischste, was wir in uns haben, ist das menschliche gehirn. im aufgetauten zustand.   

makunouchi bento & silent strike (temesvar/rou) – dieses elektronische trio beschwört den geist bela bartoks aus der konserve und verweist so auf die spiritistische tradition der tonbandaufzeichnung bei seancen, mittels derer die stimmen der toten eingefangen werden sollten. bartok selbst wiederum bereiste mehrmals den banat mit einem fonografen, um die lokalen volksmusiken aufzuzeichnen und so den ‘geist der bauernmusik’ zu konservieren. ein herrlich verschrobenes, kulturgeschichtliches ping pong spiel mit dem spuk der musik-ethnologie im zeitalter seiner technischen reproduzierbarkeit.  

roger clarke (london) – der autor von naturgeschichte der gespenster. eine beweisaufnahme wurde mit 14 zum jüngsten mitglied der society for psychical research – der gesellschaft für parapsychologische forschung – gewählt. ein gespenst hat er trotzdem – trotz jahrzehntelanger jägerei – nie zu gesicht bekommen. weit spannender sind aber eh die zahlreichen scharlatane, betrüger, séance-fanatiker, sowie redlichen und unredlichen geisterjäger, deren oft unglaubliche geschichten clarke in seinem buch versammelt. sein ursprüngliches forschungsgebiet aber verliert dieser geisterwissenschaftler dennoch nie aus den augen. auf die frage, ob es denn überhaupt gespenster gäbe, antwortet clarke überzeugend: “natürlich gibt es gespenster, man muss nur an sie glauben.”

barbara zeman (wien) – knarrende holzböden gehören zum standardrepertoire psychoakustischer gänsehautproduktion. in barbara zemans erzählung das mädchen knarzen die bretter im schwarzspanierhaus, in dem beethoven gerade im sterben liegt. dem letzten dienstmädchen des meisters kommt es vor, als besäße der boden eine gefräßige seele. die autorin: „ich hab sehr stark mit beethovens konversationsheften gearbeitet, die an ‘gespenstischkeit’ kaum zu überbieten sind“. eine spooky uraufführung.

voodoo jürgens (wien) –der dandy als strizzi oder umgekehrt? egal. wer sich sein boheme-affines bühnen-ich dermaßen perfekt auf den dürren leib geschrieben hat wie der gebürtige tullner david öllerer, dem steht jedes recht zu, sich in der großen tradition der wiener dialektpoesie zu verorten. und als sänger oft sehr schwarzer lieder darf man sich voodoo jürgens auch als einen würdigen nachfahren des großen poeten h.c. artmanns denken. wer also sonst sollte mit studentInnen der schule für dichtung über wiener friedhöfe ziehen, allein zum zwecke, dort hausende gespenster in reime zu bannen?
die friedhofspoetInnen der klasse: manfred bruckner, jürgen heimlich,
johanna niedermair, vera reumann, stephan ronay, susanne weigersdorfer

ela orleans (london) – jacques derridas hauntology-konzept von der wiederkehr des verdrängten in der politik zeitigte auch in der elektronischen musik spannende ergebnisse, etwa dubstep-nocturnes von burial, halluzinatorische soundscapes von the caretaker oder die psychedelisch verklärten sample-songs von broadcast. unschlagbar im unheimlichen wiedergängertum ist hingegen die in schottland lebende, gebürtige polin ela orleans mit ihren verhuschten reminiszenzen an frühe girlbands der popgeschichte. was einst euphorisch und unschuldig klang, klingt bei orleans schwermütig somnabul und besudelt von allen misogynen phil spectors der unterhaltungsindustrie. wenn gespenster weinen könnten …